Julia Saner
Marke: Aigle Markenmacher: Romain Guinier
Marke: Aigle
Markenmacher: Romain Guinier
Einst fertigte die Firma Stiefel für die französischen Bauern, heute für die Hipster aus der ganzen Welt. Die Geschichte von Aigle beweist, wie ein uraltes Produkt für die Zukunft fit gemacht werden kann und dabei ganz nebenbei Arbeitsplätze in der Heimat erhalten werden.
Auf dem rissigen Beton hat sich das Regenwasser in ein paar Pfützen zurückgezogen. Der vom Unwetter gereinigte Himmel spiegelt sich darin nun in tiefem Blau mit weißen Wolken. Ein Mitarbeiter schlendert von einer Halle zur nächsten und macht vorsichtige Bögen um die Pfützen. Dabei kennt er sich mit Regenlachen bestens aus. Wie alle hier. Denn auf dem weit gestreckten Industriegelände, das einst als Militärbasis diente, arbeiten die «Maîtres Caoutchoutier». Frei übersetzt könnte man sie als die «Meister der Gummistiefel» bezeichnen.
Ihr Arbeitgeber ist das Traditionsunternehmen Aigle, das hier im Industriegebiet der westfranzösischen Kleinstadt Châtellerault, rund eine Stunde Autofahrt von den berühmten Loire-Schlössern entfernt, seinen Stammsitz und heute auch noch seine Produktionsstätte hat.
Die Firma, 1853 vom dem nach Frankreich ausgewanderten Amerikaner Hiram Hutchinson gegründet, steht im Ruf, nicht nur den Gummistiefel erfunden zu haben, sondern bis heute auch die widerstandsfähigsten Exemplare davon herzustellen. Wirklich? Romain Guinier, seit 2008 Chef des Unternehmens, nickt.
Ich bin überzeugt, dass es die besten Gummistiefel der Welt sind. Und das ist nicht nur meine Meinung. Bei internen Konkurrenztests haben wir immer Nase vorn.
Besonders in Bezug auf Robustheit erzielen, so der Manager, Aigle-Boots Bestnoten. Bei den Verklebungen gäbe es weniger Risse und auch die Farbbeständigkeit sei besser als die der Konkurrenz. Ganz zu schweigen von der Flexibilität, die in sogenannten Beuge-Tests überprüft werde. «Wir knicken die Stiefel bis zu 500'000 Mal um, um ihre Elastizität zu kontrollieren. Das Ganze ist vergleichbar mit den Stuhltests von IKEA. Keiner unserer Konkurrenten macht das, das ist einzigartig auf dem Markt», erzählt mit sichtbarem Stolz der Vorstandsvorsitzende. Die Gründe für den Qualitätsvorsprung sind zahlreich, aber man kann sie in einem Begriff zusammenfassen: Savoir-Faire.
Aigle weiss eben, wie es geht – dank über 160 Jahren Erfahrung.
Die Mitarbeiter in Châtelleraut kennen die Quellen für die besten Naturkautschuk-Qualitäten und arbeiten seit Jahrzehnten mit denselben Lieferanten aus Vietnam und Malaysia zusammen. Guinier: «Die billigere Alternative aus Afrika haben wir nur einmal ausprobiert. Die Ergebnisse waren nicht zufriedenstellend. Also haben wir es wieder gelassen.» Die Natur-Kautschuk-Klötze, die je nach Saison entweder wie reifer Parmesan-Käse und wie die Fettecken des Künstlers Joseph Beuys aussehen, bleiben nicht lange auf Lager. Riesige Walzen verwandeln sie alsbald in flexible Kautschuk-Bahnen, die bei jedem Walzvorgang dünner, breiter und gleichmäßiger werden. Immer wieder knallt es durch die Halle, wenn die Maschine Luftblasen aus dem Rohstoff drückt. «Kautschuk ist ein natürliches Material, das lebt und das bei schlechter Verarbeitung selbst nach der Vulkanisierung, sich verändern kann. Die Folge sind poröse Stellen, Materialrisse oder Farbveränderungen. Wir haben ein eigenes Labor, das ständig an der Zusammensetzung feilt. Vor ein paar Jahren haben wir die Formel verbessert und nun ist das Endprodukt noch resistenter als früher.»
Zwei Kilogramm Kautschuk, davon 80% Naturkautschuk stecken in einem Aigle-Gummistiefel, der aus 15 einzelnen Elementen besteht.
Die geübten Hände der Mitarbeiter fliegen förmlich über das Material. Sie schneiden, drücken und verkleben die noch immer dehnbaren Einzelteile, die danach über Leisten aus Metall montiert werden. An diesem wichtigen Produktionsschritt ziehen Frauen mit eleganten, fast schon liebevollen Bewegungen den Kautschuk in eine Stiefelform. Immer wieder streichen ihre flinken Finger das Material glatt, befeuchten es und überprüfen die perfekte Positionierung der vielen Einzelteile. Von den zarten Händen der Montage-Arbeiterinnen wechseln die Kautschuk-Rohlinge zu den muskulösen Armen der Vulkanisierer. Es braucht jede Menge Kraft, eine Fuhre Stiefel in den Ofen zu schieben. Nach einer Stunde Vulkanisierung bei 140 Grad ist aus dem lebendigen Rohstoff ein widerstandfähiges Material und aus den Einzelteilen ein wasserdichtes Ganzes geworden.
Ob es tatsächlich undurchlässig ist, wird sofort überprüft. Jeder einzelne Stiefel wird wie ein Luftballon aufgepumpt und ins Wasser getaucht. Zeigen sich Blasen, kommt der Stiefel in die «Infirmerie», auf die Krankenstation, wo seine undichten Stellen mit Silikon verarztet werden. Rund 800'000 Gummistiefel verlassen jährlich die Produktionsstätte in Châtellerault, gefertigt von rund 220 Maîtres Caoutchoutier. Ihr oberster Boss Romain Guinier weiß um den Wert dieses Human-Kapitals: «Viele von ihnen haben mit 16 oder 17 bei Aigle angefangen. Jedes Jahr verteile ich Jubiläumsmedaillen, die bekommt man in Frankreich bei einer Betriebszugehörigkeit von 40 Jahren!» Einige von ihnen gehen demnächst in Rente und hinterlassen Lücken, die noch nicht alle geschlossen wurden. Denn bei Aigle – wie überall – stand zur Diskussion, die Produktion auszulagern. «Alle unsere Konkurrenten haben es gemacht. Würden wir in China herstellen, würde ich ein Drittel der Kosten einsparen. Dafür wäre die Qualität geringer und ich würde Savoir-Faire plus den technischen Vorsprung verlieren. Nicht nur aus diesen Gründen habe ich mich dagegen entschieden.»
Romain Guinier kommt von L’Oréal und Louis Vuitton und ist sich der Macht einer Marke, wie auch des PR-Effekts von Unternehmenswerten durchaus bewusst. Als er 2008 bei Aigle den Chefposten übernahm, stellte er ganz in diesem Sinne neue Weichen: Er rückte als erstes den Gummistiefel zurück ins Zentrum seiner Marketingaktivitäten. Das Ur-Produkt der Firma war im Rahmen der Diversifikation Ende der 80er Jahre zum unbeliebten Nebenprodukt eines Textilsortiments verkommen, das in die hinteren Ecken der Läden verbannt worden war. «Mit diesem Produkt wurde Aigle gegründet. Die Firma ist über 160 Jahre alt. Das ist eine faszinierende Geschichte und Teil des französischen Erbes.»
Wo auch immer wir Aigle verkaufen, verkaufen wir auch ein bisschen Frankreich.
«Die Tatsache, dass wir weiter im Heimatland produzieren, habe ich deshalb zum Wettbewerbsvorteil und Verkaufsargument erhoben», sagt er. In Asien, wo die Firma seit über 20 Jahren aktiv ist, zieht die Handarbeit «Made in France» die Kunden an.
In den hauseigenen Läden in Tokios Trendviertel Shibuya, in Hongkong oder Shanghai steht der Gummistiefel heute im Zentrum des Angebots. Drumherum hat der Retail-Experte Guinier ein Dekor im Stil eines französischen Privathauses aufgebaut mit marmornen Kamin-Sims, Louis-Philippe-Spiegel, antiken Holzregalen und Art-Deko-Lampen. In der Herrenabteilung hängen Jagdtrophäen an den Wänden, bei den Damen herrscht Boudoir-Ambiente. «In den chinesischen Läden haben wir ganz viele Wörter bewusst auf Französisch belassen. Das gibt einen besonderen Touch und hebt uns ab.»
Die Ladenausstattung im «Heritage-Konzept» war nicht die einzige Baustelle auf der Agenda des agilen 49-Jährigen, der – wie fast alle Franzosen – mit den berühmten Gummistiefeln groß wurde. «Ich komme aus einer Familie mit vielen Jägern. Bei uns im Haus standen die Aigles in allen Größen unter der Treppe. Wer als Kind die kleinen blauen Lolly Pops trug, kauft sie später auch wieder seinen Kindern.»
Es sei eine Marke, die von Generation zu Generation weiter gegeben wird und ein großes emotionales Potenzial beinhalte. Die Zeiten, in denen Aigle vor allem Schuhe für die Landwirtschaft produzierte, sind lange vorbei. Heute kann und muss die Firma sich anders positionieren und der Vorstandschef weiß auch genau wie.
Bei allem, was wir tun, muss klar sein: Aigle ist DER Gummistiefel und dieser Stiefel kann modisch sein.
In der Zeit vor Romain Guinier brachte Aigle alle fünf bis sechs Jahre ein neues Modell auf den Markt. Heute in der Guinier-Zeit gibt es jedes Jahr mindestens einen neuen Stiefel. Dazu kommen Kooperationen mit Modemarken, Designern sowie Variationen mit neuen Farben und Reliefs. Mit dem eleganten Damen-Modell «Juliette», ausgestattet mit Absatz und Schnürung am Schienbein, ist Aigle sogar ein echtes Trendprodukt gelungen. «Der läuft super. Doch wir können noch modischer werden. Die alten Kunden kennen uns, die müssen wir nicht überzeugen. Aber die neuen, die müssen wir überraschen.» Deshalb zielt Aigle mit seiner neuen Werbestrategie, die früher um das Thema Natur rankte, nun auf ein urbanes, jüngeres Klientel. «Den besten Zuwachs haben wir derzeit in den Städten. Diese Kundschaft trägt Gummistiefel zum Shoppen, nicht zum Land-Spaziergang.» Der sportliche Firmenchef streicht sich durch das dichte schwarze Haar und resümiert: «Die Neuausrichtung im Stil, der Umbau der Läden und der Ausbau der Internationalität haben das Überleben dieser Firma gesichert.» Aber der Boss sieht sich noch immer nicht am Ziel. Beim Entstauben der Marke habe man die Halbzeit erreicht. Dass Aigle auf dem neu eingeschlagenen Weg zu mehr Mode, Lifestyle und Begehrlichkeit alte Kunden und Märkte verlieren wird, nimmt die neue Geschäftsleitung in Kauf. Hauptsache sei, keine Kompromisse bei der Qualität einzugehen. Romain Guinier: «Es gibt einen Spagat zwischen Mode und Funktionalität. Ein Gummistiefel kann beides sein, schick und wasserdicht. Schließlich dient er vor allem dazu, in Pfützen zu springen.»